Unbemerkter Genozid?

Kategorie: KRIEG & FRIEDEN
Veröffentlicht: Sonntag, 27. August 2023 15:22

Es kann nicht sein, was nicht sein darf. So oder ähnlich wird unser durch Vergesslichkeit extrem geprägte Bundeskanzler Scholz wohl denken, als er von seinen Mitarbeitern oder dem Lagedienst die Informationen über die Hungerkatastrophe im Bereich Bergkarabach erhalten hat. Sichtbare oder gar spürbare Taten erfolgte aber weder von ihm, noch durch die Frau, die auf den Posten des Außenministers der BRD gesetzt wurde. Auch die EU glänzt durch Wegschauen.

200 Tage Hunger unbemerkt von der Weltöffentlichkeit?

Der sogenannte Latschin-Korridor, ein etwa 25 Kilometer langer Abschnitt der Landstraße von Armenien nach Bergkarabach, wurde jedoch vor wenigen Tagen zum Thema des Sicherheitsrates. Wie eine Nabelschnur verbindet sie die letzten 120.000 verbliebenen Armenier in Bergkarabach mit dem Mutterland.

Seit acht Monaten blockiert Aserbaidschan die Straße, neuerdings selbst für Hilfslieferungen vom Roten Kreuz. Die humanitäre Lage der Armenier in Bergkarabach ist desolat.

Die Lage im Bereich der umstrittenen Region  Bergkarabach ist mehr als kritisch.  Verschiedene Beobachter sprechen direkt von einem Genozid, wohl wissend, was so ein Vorwurf an einen Staat bedeutet, wie zum Beispiel der ehemalige Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof Luis Moreno Ocampo. Verschiedene  UN-Experten riefen die Republik Aserbaidschan dazu konkret  auf, die Blockade sofort zu beenden.

https://twitter.com/LikaZakaryan/

Auch bei der Sitzung des UN-Sicherheitsrats in New York vergangene Woche riefen Vertreter der ständigen Sicherheitsratsmitglieder  Frankreichs, Großbritanniens und der USA die Republik Aserbaidschan dazu auf, sich an die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs der UN zu halten, die „ungehinderte Bewegung von Transportmitteln, Gütern und Personen“ zu gewährleisten. Allerdings gab es keine scharfe Verurteilung oder ähnliche Maßnahmen, auch ein gemeinsames Statement formulierte der Sicherheitsrat nicht.

Was passiert nun in der EU, die ja sonst rasch mit wirtschaftlichen Maßnahmen bei der Hand ist, um sich stark und entschlossen zu zeigen. In Brüssel fordern vor allem eine Reihe von EU-Parlamentarier endlich eine deutliche europäische Reaktion auf die Blockade. Vorschläge waren da insbesondere zielgerichtete Sanktionen gegen Propagandisten in Baku sowie Staatsbedienstete, die die der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs nicht umsetzen.

Nun wenigstens der EU-Chefdiplomat Josep Borrell zeigte sich „zutiefst besorgt“ über die Verschlechterung der humanitären Lage in Bergkarabach. Borrell  rief die Regierung der Republik Aserbaidschan auf, diese Route freizugeben.

Aber was passiert jetzt in der BRD? Die Bundesregierung verschließt beide Augen, und Ohren und  will von einem möglichen Genozid nichts wissen. Der Regierungssprecher Steffen Hebestreit sprach vor wenigen Tagen in diesem Zusammenhang von einem „Kampfbegriff“, was den Genozid betrifft.

Warum aber schweigen die Politiker in der EU und in Berlin so laut zum Sterben durch Blockade  der armenischen Christen durch die muslimische Regierung der Republik Aserbaidschan?

Es hat klare wirtschaftliche Gründe. Da ja die BRD die Zerstörung von Nordstream durch die USA oder wem auch immer zulassen musste, und sowieso gerne stolz auf russisches Gas verzichtet, muss das Gas ja auch irgendwoher kommen. So ist Aserbaidschan zu einem der wichtigsten Energie-Lieferanten für die EU avanciert.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lobte die Republik Aserbaidschan als einen „verlässlichen Partner“ der EU. Die aserbaidschanischen Gasexporte nach Europa stiegen im vergangenen Jahr um ein Drittel auf 11,4 Milliarden Kubikmeter, langfristig sollen diese verdoppelt werden. In Planung ist länderübergreifendes Projekt. Ein Unterseekabel auf dem Boden des Schwarzen Meeres soll Ökostrom von Aserbaidschan über Georgien in die EU liefern – aus Offshore-Windparks im Kaspischen Meer ähnlich wie in der Nordsee, die allerdings aber dort erst gebaut werden sollen.

Nagorny-Karabach (mr-kartographie) | BpB | cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Man kann sich nur schwer vorstellen, dass so etwas heutzutage noch möglich ist: Anfang dieser Woche wurde in Berg-Karabach der erste Fall eines Hungertodes bekannt. Dies teilte der Menschenrechtsbeauftragte der nicht anerkannten Republik, Gegham Stepanyan, mit. Er veröffentlichte das Foto eines 40-jährigen Einwohners, der angeblich an chronischer Unterernährung gestorben ist, sowie die Unterlagen der gerichtsmedizinischen Untersuchung.
 
"Die katastrophalen Folgen der seit acht Monaten andauernden aserbaidschanischen Blockade von Artsakh sind im Bereich der Gesundheitsversorgung mehr als sichtbar und spürbar", schrieb Stepanyan. – "Sie betreffen vor allem die Gesundheit der schwächsten Bevölkerungsgruppen - Kinder, schwangere Frauen, Menschen mit chronischen Krankheiten, Behinderte und ältere Menschen. "
Am 12. Dezember 2022 blockierte Aserbaidschan die einzige Landverbindung von Armenien nach Berg-Karabach - den Lachin-Korridor. Über diesen Korridor wurden mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes Lebensmittel, Medikamente und Treibstoff in die nicht anerkannte Republik geliefert.
Lika Zaharjan, eine armenische Journalistin schreibt: „Anfangs, zu Beginn der Blockade, waren die Menschen recht positiv eingestellt. Sie sagten Dinge wie: "Wir lassen uns nicht unterkriegen!", "Wir werden überleben!", "Wir werden durchkommen, auch ohne Essen!". Die Menschen versuchten, die Situation mit Humor zu nehmen, und begannen sogar, die Vorteile der Blockade zu sehen, wie z. B.:
Keine Zigaretten? Männer rauchen nicht. Gesunder Lebensstil!
Keine Autos? Die Luft ist sauber und die Menschen gehen zu Fuß. Gesunder Lebensstil!
Keine Süßigkeiten? Kein Öl? Frittiertes und Süßes sind schädlich!


Seit dem 7. Juli ist auch für sie der Zugang vollständig gesperrt. In der Region herrscht ein Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten, Wasser und Treibstoff.  
Auch wenn die Menschen noch immer entschlossen sind, durchzuhalten, sind sie geistig und körperlich erschöpft. Die Blockade beherrscht jeden Winkel ihrer Existenz: ihre Gespräche, ihr Alltag, ihre Gedanken, ihre Probleme, sogar ihre Träume - alles dreht sich um die Blockade.“
Nach Angaben von Ärzten hat sich die Zahl der Fehlgeburten in Karabach seit der Zeit vor der Blockade verdreifacht. Sie führen dies vor allem auf den Mangel an Vitaminen und allgemein auf eine unzureichende Ernährung, insbesondere mit Obst und Gemüse, zurück.


Man kann Lebensmittel durch Tauschen bekommen.  Jemand hat ein Päckchen Kaffee, jemand hat eine Packung Milch. In Tauschbörsen gibt es viele verzweifelte Beiträge von Müttern mit Kleinkindern. Sie suchen nach Babynahrung, Muttermilchersatz. Und finden keins. Die Kinder schreien vor Hunger. Mütter mit Kindern unter 2 Jahren erhalten in den Polikliniken zwar manchmal Babynahrung - aber die reicht nur für Paar Tage.
Da es aufgrund der Blockade keinen Treibstoff gibt, funktionieren Taxis und öffentliche Verkehrsmittel nicht, und die Menschen sind gezwungen, auf der Suche nach Lebensmitteln lange Wege zu Fuß zurückzulegen.

Eine alleinerziehende Mutter aus einem kleinen Dorf konnte ihre Kinder nicht ernähren und stand frühmorgens auf, um ins Nachbardorf zu laufen, in der Hoffnung, dort etwas zu finden. Die Kinder wachten auf, warteten ein paar Stunden auf ihre Mutter und beschlossen dann, sie zu suchen. Nachdem sie mehrere Stunden lang unter der sengenden Sonne nach ihr gesucht hatten, wurden sie müde und beschlossen, sich in einem Auto auszuruhen, das wegen Treibstoffmangels verlassen worden war. Die Kinder schliefen im Auto ein und starben in dem überhitzten Wagen an Dehydrierung und Schwäche.


Es ist auch schwierig, Medikamente zu bekommen. Mitte Juli berichtete die armenische Gesundheitsministerin Anahit Avanesyan über die kritische Situation bei der Versorgung mit Medikamenten in Artsakh.  
"Die medizinischen Ressourcen von Artsakh sind sicherlich nicht unendlich. Diese Situation stellt eine ernste Gesundheitskrise dar, denn im Moment ist der gesamte Prozess unterbrochen, es kommen keine neuen Chargen von Medikamenten nach Artsakh", so der Minister.
Die Zahl der Patienten mit einer hypertensiven Krise - einem Anstieg des Blutdrucks - nimmt derzeit stark zu. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Patienten die Medikamente nicht regelmäßig einnehmen können. Sie sind in den Apotheken nicht erhältlich. Die Zahl der Patienten mit Anämie hat zugenommen.  
Alle geplanten medizinischen Eingriffe wurden in Artsakh ausgesetzt, Medikamente und medizinische Hilfsgüter werden nur in dringenden und akuten Fällen eingesetzt.
Außerdem gibt es immer wieder Stromabschaltungen. Es gibt einen Blackout-Zeitplan. Alle vier Stunden geht das Licht für zwei Stunden aus. Aber das Licht kann auch jederzeit unerwartet abgeschaltet werden. Deshalb gehen Kühlschränke und Elektroherde kaputt. Es gibt selbstgebaute Elektroherde zu kaufen - einen Steinsockel und eine Heizspirale - sie sind gefährlich, sie explodieren. Aber auch sie sind schwer zu kaufen.   
Einige der Häuser am Berghang haben noch Wasser im Erdgeschoss. In den Hochhäusern auf dem Gipfel gibt es überhaupt kein Wasser.
Im 21. Jahrhundert erscheint die Situation des Hungers in einer Welt voller Supermärkte und fortschrittlicher Technologie absurd. Wir fliegen in den Weltraum, entwickeln künstliche Intelligenz, und dann sowas. Es ist wie in einem Horrorfilm, in dem die Hauptbösewichte keine furchterregenden Monster sind, sondern Gleichgültigkeit, Gier und politische Spielchen. Dabei kann man sehr schnell vergessen, dass hinter jeder Statistik Menschenleben stehen.

Warum aber das alles?

Die Region gehörte in der Zeit der Sowjetunion zu Aserbaidschan, wird aber real  mehrheitlich von  christlichen Armeniern bewohnt.

Nach einem Krieg Anfang der 1990er-Jahre übernahm Armenien die Kontrolle über das Gebiet, völkerrechtlich beansprucht es Aserbaidschan. Fast drei Jahrzehnte lang hielt Armenien darüber hinaus mehrere aserbaidschanische Gebiete besetzt, die als eine Landbrücke zwischen Armenien und Bergkarabach dienten.

Nach erbitterten Kämpfen und der Rückeroberung weiter Teile der Region durch das aserbaidschanische Militär unterstützt durch die Türkei  vor drei Jahren verkleinerte  die armenische Exklave sich auf das Gebiet um die Hauptstadt Stepanakert . Viele Armenier flüchteten aus der Region vor den vorrückenden Truppen Aserbaidschans. Friedenstruppen aus Russland riegelten den armenisch bewohnten Rumpfteil Bergkarabachs ab und verhinderte schlimmere Übergriffe.

Die russischen Truppen haben  bis 2025 auch die Aufgabe, die Sicherheit des Latschin-Korridors zu kontrollieren. Aserbaidschan sollte im Gegenzug die Sicherheit von Personen und Gütern auf dem Weg von und nach Stepanakert garantieren. Russland aber selber in der Region zeigt sich sehr schwach, und die Armenier wissen, das Russland im nächsten Krieg keine Hilfe mehr sein wird.

Quelle Wikipedia


Quellen:
https://www.facebook.com/ArtsakhOmbuds/posts/pfbid02dzk8LcLVKY92HMKzuhoSnVPWH4zVVZQoVFxSUyrGarsJFLRw4JExf59NfgoqXWxDl?_rdc=2&_rdr  
https://indiepeace.org/blockade-recreating-collective-trauma/?fbclid=IwAR1TwFNVy-tWWX-Q8_jhIdQpY6iFlmx1IE08g9WZevcHEzyUFXKg812m1mo  
https://www.aravot.am/2023/07/13/1354840/